Die Bergung der Bayreuther Genisa
Nachdem entschieden worden war, anlässlich des 250-jährigen Jubiläums der Einweihung der Bayreuther Synagoge im Jahr 2010 das historische Gebäude zu renovieren, begannen im November 2009 Dachdecker mit Aufräum- und Freilegungsarbeiten auf dem Dachboden, um die genaue Vermessung und Dokumentation des Dachstuhls vorzubereiten. Innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde war man sich der Möglichkeit, dass in der Synagoge eine Genisa existierte, bewusst, und so wurden, als die Handwerker auf der Westseite beim Herausschaufeln von Ziegelschutt aus Mauerhohlräumen auf ein paar zerfledderte Schriftstücke stießen, die Arbeiten sofort unterbrochen und der gesamte Dachboden nun genauer unter die Lupe genommen. Als dann beim Anheben der noch mit handgeschmiedeten Nägeln befestigten Bodendielen an der Ostseite ein großer staubiger Haufen augenscheinlich uralter hebräischer Schriften, der jahrhundertelang unter den Brettern verborgen gelegen hatte, ans Tageslicht kam, wurde die Vermutung zur Gewissheit: Die Bayreuther Synagoge barg tatsächlich eine Genisa.
Umgehend setzte sich Felix Gothart, der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde, mit der Leitung des Genisaprojekts Veitshöchheim in Verbindung. Nach einem ersten Ortstermin Anfang Dezember 2009 und nachdem zwischen der Israelitischen Kultusgemeinde Bayreuth, der Oberfrankenstiftung und der Landesstelle für nichtstaatliche Museen in Bayern eine Übereinkunft über die Bereitstellung der erforderlichen finanziellen Mittel getroffen worden war, wurde das Genisaprojekt Veitshöchheim mit der fachgerechten Bergung, Auswertung und Inventarisierung des Fundes beauftragt.
So kam es dazu, dass dann wir, Beate Weinhold und Elisabeth Singer-Brehm, die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Genisaprojekts, im Spätwinter in Bayreuth eintrafen. Im Gepäck hatten wir viel warme Kleidung, unser Handwerkszeug, Atemschutzmasken, eine Fotoausrüstung und außerdem die herausfordernde Frage, wie bei der wissenschaftlichen Bergung einer Genisa am sinnvollsten vorzugehen sei. Gerade damit betraten wir Neuland, weil bis zu diesem Zeitpunkt keine Genisa in Deutschland jemals fachkundig geborgen worden war. Alle bisherigen deutschen Genisafunde waren undokumentiert abgetragen und bestenfalls in Schachteln abgelegt, schlechtestenfalls in Abfallcontainern „entsorgt“ worden.
In einer Genisa sind zerfallende und ineinandergeschobene Fragmente von beschriebenem oder bedrucktem Papier, aber auch Teile von Ritualgegenständen mit Staub, Sand, Schutt nebst Glasscherben, Holzsplittern, Stroh, Spinnweben, Tierexkrementen und Mumien von Vögeln und Nagern zu einem Konglomerat vermengt, in dem es kaum möglich ist, eine Schichtung auszumachen und exakt zu vermessen, wo ein Fundstück liegt. Meist ist es zunächst noch nicht einmal möglich, ein einzelnes Objekt anzusprechen – man hat es eher mit einer „Fundmasse“ zu tun, die ihren Inhalt erst offenbart, nachdem man sie Partikel für Partikel vorsichtig auseinandersortiert hat. Die Fragmente bereits unmittelbar an der oftmals schwer zugänglichen Fundstelle voneinander zu trennen, ist jedoch nicht zu empfehlen, denn es könnte dem Zustand der ohnehin fragilen Fundstücke abträglich sein. Wichtig für die Genisaforschung ist es, zu dokumentieren, in welchem Bereich des Dachbodens das Fragment liegt und ob es sich dort in einer tieferen oder einer höheren Schicht befindet. Für den vorliegenden Genisafund wurde entschieden, sich in der Vertikalen auf die Lagebezeichnungen „oben“, „Mitte“ oder „unten“ zu beschränken.
Anders als etwa die Veitshöchheimer Genisa war die Bayreuther Genisa nicht im Gewölbezwickel, sondern fast ausschließlich in dem stellenweise nahezu 1 m tiefen und 0,5 m breiten Hohlraum im Kopfbereich des zweischaligen Außenmauerwerks abgelegt. Überwiegend erfolgte die Ablage in einer Tiefe von etwa 0,75 m bis etwa 0,25 m unter der Oberkante des Mauerwerks. Der Mauerwerkzwischenraum bis 0,25 m Tiefe wurde an den meisten Stellen mit Ziegelschutt und Sand angefüllt vorgefunden, worin sich aber auch immer wieder Genisamaterial verbarg. Die Genisabergung beschränkte sich einstweilen auf den hier beschriebenen etwa halbmeterbreiten Randstreifen des Dachbodens der Bayreuther Synagoge, weil zahlreiche Stichproben an anderen Stellen bisher keinen positiven Befund ergeben haben. Der Dachstuhl ist so konstruiert, dass an allen vier Gebäudeseiten dem zweischaligen Außenmauerwerk rechtwinklig Balken aufliegen, und zwar in Nord-Süd-Richtung die Zerrbalken sowie an der Ost- und Westseite die kurzen Stichbalken. Es bot sich an, diese Balken zur Begrenzung der Dokumentationsfelder zu verwenden. Wo eine weitere Unterteilung der Felder erforderlich war, erwiesen sich zwischen die beiden Mauern eingeklemmte Maßstäbe als geeignet, da sich Schnüre nicht befestigen ließen.
Die Bergung wurde nahe der Mitte der Ostseite des Gebäudes begonnen und von da aus in nördlicher Richtung fortgesetzt. Zur Erprobung der Vorgehensweise wurde zunächst ein scheinbar nur mäßig bestücktes Feld südlich des erwähnten großen Papierhaufens ausgewählt. Nachdem das Feld wie beschrieben in drei Segmente unterteilt, alles vermessen, protokolliert und fotografiert war, konnte mit der Entnahme des Materials begonnen werden. Da sich die Ablage jedoch bis auf etwa 1 m Tiefe unter der Oberkante der Balkenlage erstreckte, ließen sich vor allem die tieferen Lagen nicht einfach durch Hinuntergreifen erreichen. In den Hohlraum hinabzusteigen verbot sich zunächst, denn die Genisa durfte keinen Schaden nehmen. So blieb nur die Möglichkeit, aus der Bauchlage kopfüber in die Tiefe abzutauchen und auf diese Weise den Schatz an die Oberfläche zu holen.
Hatte man von oben betrachtet den Eindruck gehabt, in diesem Feld liege nur eine dünne Papier-Schmutz-Schicht, so wurde nun nach und nach erkennbar, dass die Ablageschicht beinahe 50 cm tief war und bis auf etwa 1 m Tiefe zwischen den beiden Mauern nach unten reichte. Allerdings überwog in den tieferen Bereichen der Schmutz- gegenüber dem Papieranteil deutlich und so musste der geborgene Staub anschließend nach kleinsten Schnipseln durchsucht werden. Goldgräberstimmung stellte sich tatsächlich schon bei der Bergung aus diesem ersten Feld ein, zum Beispiel als sich darin ein so außergewöhnliches Objekt wie ein noch sorgsam in ein Täschchen verpackter, handgeschriebener Kindbettzettel fand.
Tags darauf stand die von allen Seiten mit Spannung erwartete Bergung des im nördlich angrenzenden Feld liegenden „großen Haufens“ an, der maßgeblich zur Entdeckung der Genisa beigetragen hatte. Schon nach dem Abtragen dreier je ca. 15 cm dicker Schichten kam jedoch ein Mauerabsatz zum Vorschein, der die Anhäufung künstlich erhöht hatte. Erfreulicherweise reichte neben dem Absatz die Fundstätte wieder weit in die Tiefe, so dass am Ende des Tages dieses Feld fünf gut gefüllte Kartons erbracht hatte. Wie sofort zu erkennen war, befanden sich auch darin wieder einige ganz besondere Stücke: das Fragment einer Esther-Rolle, mehrere eindeutig datierbare Kalender sowie ein weiterer handgeschriebener Kindbettzettel.
Vorab war gemutmaßt worden, dass damit schon der größte Teil der Genisa entdeckt sein könnte, doch in den folgenden Tagen erwiesen sich alle weiteren Felder auf die Nordostecke des Gebäudes zu als gut gefüllt. Sogar aus dem nur schwer zugänglichen Feld an der Nordostecke selbst ließen sich zahlreiche Fundstücke zu Tage fördern.
In den Feldern an der Nordseite des Dachbodens verringerte sich die Funddichte stetig, je weiter man nach Westen kam. Dieser Befund war jedoch zu erwarten gewesen, denn hier hatten mehrfach bauliche Veränderungen stattgefunden, bei welchen vielleicht früher einmal vorhandenes Genisamaterial wohl entfernt worden oder zu Schaden gekommen wäre. Doch da sich in fast jedem Feld zumindest kleinste Fragmente fanden, die wegen der anstehenden Renovierungsarbeiten unbedingt geborgen werden mussten, wurden auch hier sämtliche Hohlräume in Handarbeit sorgfältig ausgeräumt.
An der Westseite waren die Mauerhohlräume bereits im November 2009 von den Dachdeckern ausgeschaufelt worden. Deshalb blieb für das Bergungsteam hier nur noch die Aufgabe, die leeren Kammern auf eventuelle Überbleibsel durchzusehen sowie den von den Handwerkern angelegten Schutthaufen vor dem Abtransport noch einmal gründlich zu durchsuchen.
Zu Beginn der Bergungsarbeiten war auf der Ostseite nur im nördlichen Bereich der Bodenbelag entfernt, so dass der südliche Abschnitt zunächst nicht einsehbar gewesen war. Erst nachdem die bisherigen Grabungen gezeigt hatten, dass durchaus im ganzen Randbereich mit Funden zu rechnen sei, wurde auch hier der Fußboden geöffnet. In den darunterliegenden Feldern fand sich sogleich wieder deutlich mehr Genisamaterial als auf der Nord- und Westseite, zum Teil tief im Sand verborgen.
Noch eine besondere Überraschung hielten dann die Felder vor der Südostecke bereit: Hier lagen auf dem inneren Teil der Mauer große grob bearbeitete Steine wie eine Abdeckung über dem Hohlraum zwischen den Mauern – nur ein etwa armbreiter Spalt entlang der äußeren Mauer blieb unbedeckt. Im nördlichsten Feld mit dieser baulichen Besonderheit ließen sich aus dem Spalt zahlreiche Papierfragmente entnehmen. In den drei südlich angrenzenden Feldern dieser Art fanden sich Papierfragmente nicht nur in dem Spalt, sondern auch noch unter den Steinquadern. Der Zwischenraum zwischen diesen und der äußeren Mauer war dort stellenweise so eng, dass sich nur noch ein nackter Arm hineinzwängen ließ. Um möglichst weit in die Tiefe zu gelangen, musste man sich bäuchlings auf die februarkalten Steine pressen. Nur mit Hilfe von Stöcken konnten Schriftstücke aus den hintersten Winkeln der Hohlräume unter den Steinblöcken hervorgeholt werden. Es ist schwer vorstellbar, dass die Fragmente auf ebenso unbequeme Weise dort unten eingebracht wurden. Auch dass sie von Tieren dorthin verschleppt wurden, ist wenig wahrscheinlich, denn sie weisen keinerlei Fraßspuren auf. Da die Bauforschung schon ergeben hat, dass der Dachstuhl einstmals verändert wurde, wäre es möglich, dass die Decksteine erst aufgesetzt wurden, nachdem man die Genisa bereits abgelegt hatte. Weitere Untersuchungen zu dieser Hypothese stehen noch aus.
Zuletzt sollte die Südseite des Dachbodens untersucht werden, doch wie an der Nordseite war hier ein größerer Fund aufgrund der früher vorgenommenen baulichen Veränderungen unwahrscheinlich. Diese Vermutung konnte bestätigt werden: In den meisten Feldern fanden sich hier nicht einmal mehr Kleinstteile.
Nach vier Wochen Grabungs- und Bergungsarbeit waren so schließlich die Mauerhohlräume an allen vier Gebäudeseiten freigelegt und die entnommene Masse im Rahmen des an Ort und Stelle Möglichen von Schutt und Schmutz getrennt. Das Ergebnis waren gewaltige Ziegel- und Staubhaufen, aber auch nahezu 50 Kartons Genisafund, die es in den nächsten Monaten mit größter Sorgfalt auszuwerten galt.